Dienstag, 23. April 2024

Auszug aus „Praktische Hilfen gegen die Angst: Was Sie in Zeiten der Krise für sich tun können“

(zur Coronapandemie)

 

Kapitel 3  Die Wurzeln der Angst
Aus der ZEIT online vom 16. März: „Wir haben da ab und an dieses unvertraut luftige Gefühl in der Brust. Da hat sich etwas verschoben. Unsere Angst, unsere seit Jahren flatternde Angst hat endlich einen Grund, sie hat endlich ein Zuhause. Das hat sie sich wirklich verdient.“1 
Woher kommt diese manchmal so hohe Intensität von Gefühlen? Warum eine solche Panik? Angst ist nicht etwas Absolutes und Kompaktes. In diesem Kapitel können Sie noch tiefer erforschen, was mögliche Gründe für die Ängste sind.

 

Woher kommt die manchmal unangemessene Heftigkeit von Gefühlen?
Was Sie immer wieder im Alltag (bei anderen ist es einfach!) beobachten können, sind Gefühle, deren Heftigkeit manchmal der Situation nicht angemessen scheint. In der Partnerschaft lässt sich das bei Streitereien gut verfolgen. Ein kleiner Anlass, ein falscher Ton, eine flapsige Bemerkung („Das war wieder typisch von dir!“) und ein Riesenkrach startet. Wütend mit hochroten Köpfen starren sich beide an. Fragt man den einen: „Warum bist du gerade so wütend?“ kann der sofort alle Gründe nennen. „Weil er oder sie mich gekränkt oder beleidigt hat. Ich habe allen Grund so wütend zu sein!“ Fragt man den anderen, dann findet der genauso viele gute Gründe für seinen Ärger.
Als Außenstehender wundern Sie sich manchmal, denn Sie sehen klar das Unangemessene und Übertriebene. Woher nur kommt diese enorme Ladung an Wut? 
Ich teile in einer solchen Situation die gefühlsmäßige Intensität in zwei Teile. Es gibt einen Teil des Ärgers, der der Situation angemessen ist. Wenn mich mein Partner oder meine Partnerin mit einer flapsigen Bemerkung kränkt, dann ist ein kleiner Ärger dem angemessen. Vielleicht wollen Sie in einer noch verbindlichen Form klarstellen: „Hey, stopp! Bitte rede nicht so mit mir! Das hat mich jetzt verletzt“ Das wäre eine angemessene erwachsene Reaktion. Eine heftige Schreierei mit anschließendem Türenknallen ist es sicherlich nicht! 
Man könnte sogar anfangen, Prozentzahlen grob abzuschätzen, wieviel Prozent der Ladung der Situation angemessen sind und wieviel nicht. Bei dem heftigen Streit in unserem Beispiel sind vielleicht 20 oder 30 % angemessen, der Rest nicht. 
Das geht von außen leichter, von innen als Betroffene tun wir uns weit schwerer. Denn wir erleben unmittelbar die Stärke des Gefühls und damit ist es für uns in der aktuellen Situation berechtigt. 
Die gleichen Prinzipien gelten bei den Ängsten in der Coronakrise, aber anhand des Ärgerbeispiels lassen sie sich leichter nachvollziehen.
Zurück zum streitenden Paar! Woher kommen die 70 % Überschuss an unangemessener Intensität des Ärgers her? Diese Ladung hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Es handelt sich um alte Gefühle, die damals nicht ausgedrückt wurden. Natürlich kann ein Teil der Ladung auch zu der Geschichte der Partnerschaft gehören (mein Partner ist gerade fremdgegangen!), meist gehört aber nur ein kleiner Teil dahin. Vieles wurzelt in der Kindheit.

 

Kindliche Erfahrungen wirken weiter
Wenn mich mein Vater oder meine Mutter mit bissigen Bemerkungen als Kind öfters gekränkt haben, dann war das damals für mich eine tiefe Verletzung. Die Wut und der Schmerz darüber wurden dann heruntergeschluckt, damit die Eltern nicht böse wurden. Wenn heute mein Partner oder meine Partnerin mit ähnlich herablassendem Ton sagt „Das war wieder typisch von dir!“, dann schießen Bilder aus der Vergangenheit hoch und überlagern die aktuelle Situation. Ich bin nicht mehr ganz in der Gegenwart und der Ärger von damals bricht sich heute seine Bahn.
Was für die Wut gilt, gilt auch für die Angst vor dem Coronavirus. Deswegen kann ein Teil Ihrer heutigen Angst – nicht die ganze wohlgemerkt! – aus alten kindlichen Ängsten rühren. Welche vernünftige Reaktion und welches vernünftige Verhalten wären in den Coronazeiten angemessen für einen Erwachsenen?
Aber jede/r von uns trägt eine Fülle alter kindlicher Gefühle mit sich herum. Als Kind haben wir gelernt, sie zu unterdrücken. Das war damals notwendig, weil sie uns überforderten. Heute sind wir in der Lage, anders mit ihnen umzugehen, aber sie sind uns meist nicht bewusst. Sie zeigen sich aber immer in Konflikten des Alltags in unangemessenen Reaktionen. Da reagiert dann nicht ein vernünftiger Erwachsener, sondern zum Teil noch das ängstliche, verwundete oder wütende Kind.
Wer jedoch die alten Schmerzen und Ängste mehr wahrnimmt und erkennt, dass sie aus der Vergangenheit kommen, entmachtet sie allmählich. Dazu braucht es keinen Psychologen oder Coach. Es reicht die innere Bereitschaft, zurück zu schauen und Gefühle in kleinen Portionen, ohne sich zu überfordern, zu spüren. Man braucht keinen Todesmut, es genügen Neugier, Offenheit und Ehrlichkeit. 
Dabei geht es nicht um den großen Ausbruch, der als einmaliger Befreiungsschlag ersehnt wird. Oft genügt es, sich folgende Fragen zu stellen: Ist dieses Gefühl in seiner Intensität ganz neu oder mir doch aus der Vergangenheit bekannt? Dann hilft es, sich etwas Zeit lassen, um auf Antworten aus dem eigenen Inneren zu warten.
Aber war die Kindheit nicht unsere glücklichste Zeit? Ja und Nein! Die Kindheit war wahrscheinlich unsere härteste und schlimmste Zeit, auch wenn es immer wieder selige und ekstatische Momente gab. Wunden und Enttäuschungen gehören von der Geburt an mit dazu. Ein Kind erlebt in seinen ersten Monaten und Jahren alle Eindrücke ungefiltert. Seine Gefühle haben eine absolute und gewaltige Intensität. Man betrachte nur ein schreiendes Baby. Es kennt keine Kontrolle. Ein kleines Bauchweh wird zur Lebensbedrohung. Die Eltern sind auf der einen Seite eine Quelle von Glück und Liebe, auf der anderen Seite der Ursprung von Wut, Enttäuschung und Angst. Und kein Vater, keine Mutter kann ihrem Kind die absolute Liebe geben, auf die es hofft. Das wäre übermenschlich.
Die alten Ängste und Verletzungen schlummern noch in jedem. Ein Kind wird von der Intensität des erlebten Schmerzes, der Angst oder Wut überfordert. Sein Gehirn ist noch nicht so weit, diese Empfindungen wie ein Erwachsener zu verarbeiten. Es lernt, die Gefühle und auch die Erinnerungen abzuspalten und zu unterdrücken. Sie sind nicht ganz verschwunden, sondern ruhen im Untergrund. Sie rühren sich dann, wenn später etwas geschieht, das an das Verdrängte erinnert. Trennungen in Beziehungen beispielsweise bringen solche Gefühle ganz stark nach oben.
Auch eine Panik beim Anschauen der neuesten Nachrichten über das Coronavirus wird wahrscheinlich gespeist durch Gefühle aus der Kindheit. 
Sie müssen keine bewusste Erinnerung an die Geschehnisse von damals haben. Vielleicht war die Geburt lebensbedrohlich, vielleicht gab es eine Trennung von der Mutter in den ersten Lebensjahren oder etwas anderes Schreckliches ereignete sich. Wenn es solche Ereignisse gab, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Ihre jetzigen Ängste von den alten Ängsten mit verursacht werden.

 

Ängste aus der Kindheit
Gab es einschneidende Ereignisse als Kleinkind – bis zurück zur Geburt – oder als Heranwachsender, die einem normalen Kind große Angst machen?

Der Körper speichert solche Erfahrungen und in Krisenzeiten wie diesen kommen Erinnerungen an den alten Schrecken hoch. Vielleicht haben Sie eine normale Kindheit ohne Besonderheiten gehabt. Dennoch gibt es für jedes Kleinkind erschreckende Erlebnisse.
Ich habe über 10 Jahre lang an Sitzungen und Seminaren des Ansatzes  von Ray Castellino teilgenommen. Dabei geht es um einschneidende Erfahrungen vor der Geburt, bei der Geburt und auch in den ersten Jahren danach. Aus eigenem Erleben weiß ich, wie prägend diese Erlebnisse sind und dass sie wieder ans Licht kommen und heilen können. Dazu dient die nächste Übung.

 

Umgang mit dem ängstlichen Kind von damals
Stellen Sie sich das Kind, das Sie in der Vergangenheit waren in der oder einer ängstigenden Situation  vor. Was hätte das Kind damals als Schutz und Unterstützung gebraucht? 
Dann stellen Sie sich vor, dass Sie als Erwachsener, der Sie jetzt sind, hingehen und dem Kind das geben, was es damals gebraucht hätte. Nehmen Sie sich alle Zeit dazu. Seien Sie mitfühlend und geduldig. Und erleben Sie, wie das Kind allmählich sich entspannt!

Vielleicht brauchen Sie Zeit, um diese Vorstellungen deutlicher zu entwickeln. Aber es lohnt sich! Sie können diese Übung wieder und wieder machen. Jedes Mal bauen Sie etwas mehr von der alten Angst und den alten Spannungen ab. 
Ein anderer praktischer Ansatz im Umgang mit belastenden Gefühlen zielt in die gleiche Richtung. Stephen Wolinsky hat ihn entwickelt. Er geht davon aus, dass wir eigentlich nur zwei wirklich unterschiedliche Zustände kennen: Entweder wir sind voll wach und präsent in der Gegenwart oder wir befinden uns in einer Selbsthypnose, einer Art Trance, die uns geistig von der Gegenwart ablenkt. 
Deine Ängste in der Coronakrise stellen nach diesem Ansatz eine solche Trance dar. Die Trance ist ein Schutz, die wir in der Kindheit entwickelt haben, weil eine Situation für uns unerträglich war. Um diese Trance aufzulösen und damit ganz in der Gegenwart anzukommen, müssen wir diese alten Gefühle noch einmal spüren und annehmen. Als Kind war es unerträglich, den Schmerz, die Angst und die Wut auszuhalten - dem Erwachsenen ist das heute möglich. Dadurch löst sich der Schleier auf, der uns die Gegenwart vernebelt. 
Ich lade Sie ein, das auszuprobieren. Ich habe diesen Ansatz persönlich als sehr hilfreich erlebt.

 

Ihre Ängste in der Tiefe erforschen
Sorgen Sie dafür, dass Sie in der nächsten Zeit nicht gestört werden und machen Sie es sich bequem. Nehmen Sie Kontakt mit Ihrem Atem auf und mit jedem Ausatmen lassen Sie mehr los.
Wenn Sie an Ihre aktuelle Situation mit dem Coronavirus denken - welche Gefühle tauchen auf? Was nehmen Sie dabei in Ihrem Körper wahr? Wie spiegeln sich die Gefühle in körperlichen Spannungen wieder? Spüren Sie denen ein Stück weit nach.
Wenn Sie ein Kind wären, dass diese Empfindungen hat  - Wie alt sind Sie? Trauen Sie dabei der ersten Zahl, die Ihnen einfällt! Wie alt sind Sie in diesem Zustand? Wo genau im Körper oder Geist finden Sie diesen inneren Teil, den wir jetzt „inneres Kind“ nennen? Spüren Sie genau an diese Stelle.
Ist dieses Kind mit bestimmten Gefühlen verknüpft? Mit welchen?
Wenn Sie zu diesem Kind werden – wie ändert sich Ihr Selbstbild? Wie erleben Sie sich dann? Was halten Sie von sich?
Wenn Sie zu diesem Kind werden – wie ändert sich Ihr Bild von der Welt und anderen Menschen? Wie nehmen Sie dann die Welt und andere Menschen wahr?
Nachdem Sie dieses innere Kind etwas kennen gelernt haben, fragen Sie es zwei Fragen. Fragen Sie solange diese Fragen, bis keine neuen Antworten mehr kommen:
Was weigerst Du Dich, inneres Kind, zu erfahren oder zu spüren?
Was weigerst Du Dich, inneres Kind, von Dir zu wissen?
Sitzen Sie dann einen Moment still. Atmen Sie tief und spüren Sie Ihren Körper. Nehmen Sie jetzt noch einmal Kontakt mit der aktuellen Situation auf und schauen, was anders geworden ist.

Nachdem ich die positive Wirkung dieser Fragen auf mich entdeckt hatte, habe ich sie mir vor Jahren auf ein kleines Papier geschrieben und in meinen Geldbeutel gesteckt, um sie für Notfälle parat zu haben. Denn manchmal überfallen einen die alten Gefühle so stark, dass sie erst einmal alle anderen Gedanken verdrängen. Der Blick aufs Papier hat mir damals zur Erinnerung in einem schwierigen Moment geholfen. 

 

Der Krieg ist noch nicht vorbei
Neben der Kindheit können die Wurzeln der Ängste auch weiter in die Geschichte der Familie führen. Oft mischen sich auch Kindheit und Familiengeschichte. Deswegen liegt es bei großen Ängsten  vor dem Coronavirus auf der Hand, auch in diese Richtung zu schauen. Die Schrecken der Vergangenheit leben auch in uns noch weiter. Das war für mich die überraschendste Entdeckung in meiner Arbeit mit Familienaufstellungen. 
Hungersnöte, Seuchen und Krankheiten begleiteten und begleiten die Menschheit seit unzähligen Generationen. Zwischen 1918 und 1920 erfasste die Spanische Grippe den gesamten Erdball und forderte 50 Millionen Todesopfer. Dazu kommen Krieg und kriegerische Ereignisse, die in fast allen Nationen in den letzten 100 Jahren stattfanden und auch heute schier unzählig über die Erde verbreitet sind. Diese Ereignisse wirken weiter.
In Deutschland stehen das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg im Hintergrund jeder Familie. Den Schrecken des Kriegs haben die meisten Männer als Soldat im Kampf oder in Gefangenschaft erlebt und die Frauen bei Bombenangriffen, Vertreibung und Flucht. Wir finden also in jeder Familie jemand - meist viele! - aus diesen Generationen, also Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und ihre Geschwister, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. 
Krieg und Kriegsgefangenschaft sind ein Horror. Das ganze Leid und der Schmerz, die erlebte Todesangst werden nicht einfach vergessen, sondern stecken „in den Knochen“ der Überlebenden. Die Spannungen werden nicht mehr bewusst gespürt, sie sind abgespalten. Erkennbar werden sie nur in dem inneren Druck, unter dem jemand nach solchen Erlebnissen steht. Kinder und Enkel nehmen diese Energien auf und tragen sie mit.
Vor ein paar Tagen hatte ich das plötzliche Bild von Viren, die wie Kugeln eines Gewehrfeuers um mich surren. Und ich weiß nicht, ob und wann mich eine Kugel trifft. Plötzlich war mir mein Vater, der im Zweiten Weltkrieg war, sehr nahe. Sicher hat er dieses Gewehrfeuer erlebt. Und etwas in mir erinnert sich daran.
Es ist nicht nötig, dass jemand von schlimmen Ereignissen erzählt. Der erlebte Schrecken wird in den Augen sichtbar. Da mag ein Großvater nie etwas von seinen Erlebnissen in Krieg oder Gefangenschaft berichtet haben. Kinder sind enorm feinfühlig. Sie nehmen alle feinen Schwingungen wahr, die jemand ausstrahlt. Schweigen schützt also nicht. Bisweilen wirkt Verschwiegenes sogar noch bedrohlicher.
Deshalb sind die emotionalen Auswirkungen des zweiten Weltkriegs in Europa längst nicht vorbei. Wie stark diese Ereignisse noch in uns mitschwingen, zeigt das dauerhafte Interesse für alle Buchthemen, Fernsehsendungen und Kinofilmen über diese Zeit.
Und so kann es gut sein, dass ein Teil Ihrer Angst auf der Verbindung mit jemand in Ihrer Familie kommt, der großen Schrecken erlebt hat.

 1Rammstedt T. Was der Coronavirus bislang über uns weiß, Kolumne,  ZEIT online 16. 3. 2020

 

Übersicht über den Inhalt
1. Angst und andere Gefühle
Die Angst in der Gegenwart
Sie dürfen Angst haben
Praktische Hilfen für den Alltag

 2. Wie Ihre Gedanken Angst erzeugen und verstärken
Gedanken wahrnehmen und beeinflussen
Die Kontrolle über Ihren inneren Zustand wahrnehmen

 3. Die Wurzeln der Angst
Woher kommt die manchmal unangemessene Heftigkeit von Gefühlen?
Kindliche Erfahrungen wirken weiter
Der Krieg ist noch nicht vorbei

 4. Angst, Tod und Endlichkeit
Endlichkeit und Wandel
Durch die Katastrophe hindurchgehen
Die Angst vor dem Tod

 5. Jenseits der Angst
Wie Sie selbst handlungsfähig werden
Einzelkämpfer gehen verloren
Die Kraft der Dankbarkeit

 

 

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