Freitag, 26. April 2024

Macht uns die Familie krank?


Wie Probleme und Krankheiten durch die Familie entstehen

Wirklich neue Einsichten in die Ursache von Krankheiten und Problemen sind selten. Zur Zeit macht in Deutschland der systemische Ansatz von Bert Hellinger Furore. Mit ihm wird das Verständnis der menschlichen Psyche um einen großen Bereich erweitert.
Schauen wir uns die Probleme von Monika, Robert und Marita an, die Situationen darstellen, die häufig in Seminaren geschildert werden:


Monika leidet seit Jahren immer wieder an Phasen von Schwermut und Lebensüberdruß. Selbst an Selbstmord denkt sie in solchen Wochen. Sie scheint damit auch ihre Familie anzustecken. Denn ähnliche Symptome stellt sie inzwischen schon bei ihrer zehnjährigen Tochter fest.


Robert quälen häufig Schuldgefühle, die bei kleinsten Anlässen im Alltag auftreten. Er kann sich nicht dagegen wehren und findet trotz allen Grübelns keine Ursache dafür.


Marita wiederum hat Pech in der Liebe. Sie hat zwar zunächst großen Erfolg bei Männern, aber leider wird nie eine längere, stabile Beziehung daraus. Neidisch sieht sie nach ihren Schulkameradinnen, die schon längst ihren Partner gefunden und eine Familie gegründet haben. Ob der Traummann noch kommt?

 

Wer von einem Problem geplagt wird, der sucht nach den Ursachen. Er sucht die Erklärung bei den belastenden Erfahrungen in Gegenwart und Vergangenheit - von der aktuellen Arbeitslosigkeit angefangen bis hin zu schlimmen Erlebnissen in der Kindheit. Oft wird er hier fündig, manchmal nicht. Weder Monika, Robert noch Marita haben in den Umständen ihres eigenen Lebens eine Erklärung gefunden. Sie sind ähnlich aufgewachsen wie ihre Altersgenossen und leben in den gleichen Umständen. Woher also ihr persönliches Unglück? Etwa schon in den Genen angelegt?
Der Ansatz von Bert Hellinger blickt über die persönliche Geschichte hinaus. Er öffnet die Tür zu einem neuen Raum, dem Raum der Familiengeschichte. Hellinger hat jahrzehntelange therapeutische Erfahrungen verarbeitet und überraschende Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart entdeckt. Viele Wurzeln von Problemen reichen bis in frühere Generationen. Die ganze Familie, uns selbst eingeschlossen, ist - oft ohne es zu spüren oder zu wissen - miteinander verbunden. Leid und Schuld werden von Generation zu Generation weitergegeben. Es geht dabei um Tod, um Unrecht, um Schicksalsschläge und um Liebe und Beziehungen. Im Raum der Familiengeschichte herrschen eigene Ordnungen und Gesetze. Zum Beispiel wird jedes Mitglied, das vergessen oder ausgeschlossen wurde, durch später Geborene vertreten. Sein Schicksal wiederholt sich.
Hellinger benutzt als Ausdruck für diese unbewußten Anteile, die uns verbinden, das Wort "Seele". Die Seele sorgt dafür, dass Werte, Verhalten und Schicksale der Vorfahren in der eigenen Person weiterwirken, mitschwingen und zur Verwirklichung drängen. Diese Treue ist einer der höchsten Werte. Jeder übernimmt die für das Familiensystem erforderliche Rolle. Aus dieser Verbindung entsteht eine tiefe innere Zufriedenheit.
So hat der Tod einen enormen Einfluß. Und zwar vor allem ein Tod, der als Schock erlebt wird. Das ist dann der Fall, wenn er zu früh zu einem Kind oder jungen Menschen kommt oder wenn er auf gewalttätige Art erfolgt.

Monika hat in ihrer Familie zwei früh verstorbene Geschwister. Als Monika drei Jahre alt war, starb ihr fünfjähriger Bruder bei einem Unfall. Bei ihren Nachforschungen erfährt sie außerdem, daß das erste Kind ihrer Eltern, ein Mädchen, tot geboren wurde. Diese Schwester ist nie erwähnt worden und eigentlich vergessen.

Wenn Kinder sterben, hat das immer einen starken Einfluß auf Eltern und Geschwister. Manchmal, gerade beim ersten Kind, verarbeiten die Eltern den Tod nicht, sondern verschließen die Trauer in ihrem Herzen. Die Geschwister sind ebenfalls geschockt und fühlen sich wie schuldig. Sie leben weiter, während der Bruder oder die Schwester sterben mußten. Oft zieht es sie nun ihrerseits zum Tod hin, denn sie möchten dort sein, wo ihre Geschwister sind. "Ich folge dir nach." Dieser Satz drückt diesen Drang nach dem Tod aus, der ihnen aber nicht bewußt ist.Bei Monika äußert sich dieser Sog in Schwermut, Lebensüberdruß und Selbstmordgedanken. Diese Wirkung tritt ein, obwohl Monika die totgeborene Schwester nicht kennt und auch nie von ihr bewußt gehört hat. Aber ein solcher Tod hinterläßt bei den Eltern tiefe, gefühlsmäßige Wunden. Mit ihren feinen Antennen nehmen Kinder solche Schwingungen wahr und reagieren darauf.
In diesem Drang zum Tod finden oft schwere Krankheiten ihre Ursachen. Der Wille zum Leben ist geschwächt, und der Körper reagiert mit Krankheiten. Andere zieht es zum Tod, und sie nehmen den Weg über Exzesse und Drogen. Oder jemand anders liebt lebensgefährliche Sportarten und setzt sich so dem Tod aus. So mancher Autoraser, der sich in den Tod befördert, mag diesem Sog des "ich folge dir nach" erlegen sein.
Diese Tendenz reicht weiter in zukünftige Generationen. Kinder spüren sie bei ihren Eltern. Dann taucht in den Kindern ein anderer Satz auf: "Lieber ich als du." Lieber will das Kind sterben als daß Vater oder Mutter stirbt. Eine Art magischer Glaube beseelt die Kinder, daß sie das schlimme Schicksal für die Eltern übernehmen könnten. Monikas Tochter möchte ihrer Mutter das Leid und den Tod abnehmen, und wird deshalb selbst schwermütig.


Robert plagen immer wieder Schuldgefühle, für die er keine Ursachen weiß. Auch seine Gefühle lassen sich erklären aus dem Zusammenhalt der Familie über die Generationen hinweg. Eine andere Gesetzmäßigkeit, die in Familien herrscht, ist nämlich die: Wichtige Gefühle, die ein Familienmitglied unterdrückt hat, werden von einem späteren übernommen und gelebt.
Zu diesem Phänomen aus einem anderen Zusammenhang ein Beispiel, von dem Hellinger berichtet:

In einer Gruppe nimmt ein Paar teil. Allen fällt auf, wie unangemessen aggressiv die Frau häufig auf ihren Ehemann reagiert. Hellingers Frage an sie: "Welche Frau in deiner Familie war mit Recht wütend auf ihren Mann?" Was ihr dann einfiel: "Meine Großmutter wäre mit Recht wütend gewesen. Ihr Mann, mein Großvater, mißhandelte und demütigte sie immer wieder. Einmal zog er sie sogar an den Haaren vor allen anderen Gästen durch die Wirtsstube." Diese Großmutter hatte ihre Wut unterdrückt. Es ist so, als ob die unterdrückte Wut im Familiensystem herumgeistert und jemand sucht, der sie lebt. Die Enkelin übernimmt die unterdrückte Wut der Großmutter und spürt sie ständig. Diese Wut trifft den schuldlosen eigenen Ehemann.

Die Frage an Robert ist: "Welcher Mann in deiner Familie hätte allen Grund gehabt, sich schuldig zu fühlen?" Robert fällt ein, daß sein Vater die erste Frau während des Krieges im Stich gelassen hatte und sie dabei umgekommen war. Anschließend hatte der Vater wieder geheiratet und die erste Frau scheinbar völlig vergessen. Robert entdeckt, daß er die Gefühle lebt, die sein Vater unterdrückt hat.

Die Ordnung, die in Familien herrscht, sorgt dafür, daß Unrecht gesühnt wird. Eine wichtige Frage ist deshalb: Gab es in der Familie Unrecht und Schuld? So wird es in einer bäuerlichen Familie als großes Unrecht erlebt, wenn die Erbfolge nicht eingehalten wird. Also dann, wenn nicht der älteste Sohn den Hof erbt, sondern ihn sein jüngerer Bruder bekommt. Dieser Hof bringt dann oft Unglück.
Eine Familie gerät besonders dann durcheinander, wenn eines ihrer Mitglieder einen Mord begangen hat. Eine solche Tat kann nicht vergessen werden, sondern sie muß gesühnt werden. Der Täter verliert das Recht auf Zugehörigkeit zu seiner Familie und müßte sie verlassen. Sonst werden Kinder und andere später Geborene in die Schuld verwickelt. Oft geschehen dann in der nächsten oder übernächsten Generation entweder weitere Morde oder Selbstmorde. So spielt in Deutschland immer wieder die Schuld aus dem Dritten Reich in Familien hinein.


Bei Marita zeigt sich eine andere häufig auftretende Verwicklung in das familiäre Schicksal. Trotz ihres unbestreitbaren Erfolgs beim anderen Geschlecht enden alle ihre Liebesgeschichten über kurz oder lang unglücklich. Was ist die Ursache?
Eine Partnerschaft hat dann gute Chancen, wenn beide Partner verläßlich sind und die Reife besitzen, um irgendwann eine Familie gründen zu können und die Rolle von Vater und Mutter auszufüllen. Dazu ist es notwendig, daß - bildlich gesehen - die Mutter hinter der Frau und der Vater hinter dem Mann steht. Ist dieses Verhältnis gestört, ist auch die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit gestört.
Eine häufige systemische Ursache dieser Störung rührt aus der Vergangenheit der Eltern. Mutter oder Vater waren vor ihrer Ehe bereits einmal ernsthaft gebunden, z. B. durch eine große Liebe, eine Verlobung oder eine andere Ehe. Ein solcher erster Partner gehört mit zum System. Denn ein anderes Gesetz in Familien besagt, daß derjenige mit zum System gehört, der Platz gemacht hat für einen anderen. Wird er vergessen, wie es in vielen Familien geschieht, wird er durch ein Kind vertreten.

Der Vater von Marita war vor seiner Ehe verlobt gewesen. Er hatte sich dann von ihr getrennt, um Maritas Mutter zu heiraten. In der Familie spricht niemand von ihr, das Thema ist zu heikel. Marita vertritt - ohne daß es einer weiß oder erkennt - die frühere Verlobte ihres Vaters. Deshalb war sie schon von Anfang Papas kleiner Liebling gewesen - als Stellvertreterin seiner ersten Liebe. Mit ihrer Mutter dagegen hatte sie sich immer schlecht vertragen, denn die spürt unbewußt die Rivalität.

Das Ergebnis ist, daß Marita zwar gut mit Männern spielen und sie um den Finger wickeln kann. Aber die reife weibliche Kraft für eine dauerhafte Bindung fehlt ihr, solange sie in diesem ursprünglichen Spannungsverhältnis zwischen Vater und Mutter stecken bleibt.
Schaut man tief genug zu den Wurzeln dieser Verbindungen, wird eine tiefe und ursprüngliche Liebe von Kindern zu ihren Eltern deutlich. Kinder lieben blind und bedingungslos. Sie sind nicht lediglich, wie in der Psychologie bisher oft angenommen, bedürftig und auf Liebe angewiesen. Sie lieben selbst mit einer unbewußten, starken Liebe. Sie bleiben ihr Leben lang tief mit den Eltern verbunden und sind sogar bereit, ihr Leben für ihre Eltern und Familie hinzugeben. Aus dieser Treue heraus wird auch das Unglück der Eltern von den Kindern weiter übernommen. Da lebt ein Paar in einer unglücklichen Beziehung. Ihre Kinder werden kaum den Mut oder die Kraft haben, in ihren eigenen Beziehungen glücklicher zu sein. In ihren Herzen wäre das wie ein Verrat. Das gilt für alle Kinder. An der Oberfläche mag der Kontakt der Kinder zu den Eltern abgerissen sein oder sogar ein feindseliges Verhältnis bestehen. Aber auch solche Kinder stehen im Dienste der Familie und erfüllen Aufträge, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Lassen sich diese unheilvollen Verbindungen lösen oder umwandeln? Bert Hellinger hat dazu als Instrument Familienaufstellungen in einer ganz eigenen Form entwickelt.
Mit Hilfe der Teilnehmer einer Gruppe stellt jemand seine Familie auf. Aufstellen läßt sich entweder das Herkunftssystem, also die Familie, aus der jemand stammt, mit seinen Eltern, Geschwistern und eventuell noch früheren Generationen. Oder das Gegenwartssystem, das ist die eigene gegenwärtige Familie mit sich selbst als Mann bzw. Frau, dem Partner und den eigenen Kindern. Hier gehören auch die ehemaligen Partner dazu.
Jeder von uns trägt in seinem Inneren das Bild einer Ordnung seiner Familie mit sich herum. Dieses Bild wird bei einer Aufstellung nach außen gebracht und zum Leben erweckt. Für jedes tote oder lebendige Mitglied, sich selbst eingeschlossen, wählt er einen Stellvertreter aus. Dann gibt er jedem der Reihe nach auf einer freien Fläche einen Platz und eine Blickrichtung. Dabei wird weder eine bestimmte Haltung noch ein bestimmtes Gefühl vorgegeben.
In vielen Aufstellungen wird eine Fülle von unterschwelligen Spannungen sichtbar und von den Stellvertretern offenbart. Denn wenn beispielsweise ein Kind oder Elternteil an den Rand gestellt wird und von den anderen wegschaut, erlebt das der Stellvertreter als belastend. Die Plätze haben ihre eigene Kraft, so daß jeder, der an diesem Platz steht, ähnliche Wahrnehmungen macht. Über die reine Wahrnehmung hinaus erspüren die Stellvertreter eine überraschende Vielfalt der Gefühle und Beziehungen in der jeweiligen Familie.
Wer einen fremden Platz einnimmt, teilt die erspürten Spannungen der Rolle mit. Diese Spannungen lösen sich dann, wenn sie aufgedeckt und angesprochen werden. In der konkreten Arbeit werden eine Reihe von einfachen Sätzen benutzt, die lösend wirken. Dabei entscheidet die Wirkung auf die anderen Aufgestellten, ob ein Satz paßt und eine echte Veränderung herbeiführt. Unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten lassen sich so ausprobieren und überprüfen.
Ein entscheidender Schritt besteht darin, die Plätze zu verändern und nach einer guten Ordnung zu suchen, d. h. nach einer Ordnung, in der jeder sich auf seinem Platz wohlfühlt. Oft sieht für eine Familie die Ordnung so aus, daß die Eltern sich leicht zuwenden und ihren Kindern gegenüber stehen. Dieses stehen in einem leichten Halbkreis, wobei zuerst der älteste kommt und dann die anderen ihrem Alter nach. Dabei ist besonders heilsam, daß die bisher Vergessenen oder Ausgeschlossenen ihren Platz erhalten.

In Monikas Aufstellung ist ein wichtiger Schritt die Begegnung mit den Stellvertretern der toten Geschwister. Auch das totgeborene Kind erhält nun seinen angemessenen Platz neben den Geschwistern an Monikas Seite. Es ist für sie so, als ob ein schwarzes Loch in ihrem Inneren gefüllt wird. Monikas Stellvertreterin steht vor diesem Kind, drückt mit einer Verneigung ihre Achtung aus uns spricht den heilenden Satz: "Bitte, schau freundlich auf mich."

Für Robert, der das Schuldgefühl gelebt hat, das sein Vater unterdrückt hatte, sind andere Sätze wichtig. Er steht vor dem Vater und sagt: "Es ist dein Schuldgefühl, das ich so lange getragen habe. Bitte, nimm es wieder an dich."

In Maritas Aufstellung ist von besonderer Bedeutung, daß die bisher ausgeklammerte frühere Verlobte ihres Vaters aufgestellt wird. Plötzlich wird klar, für wen die Gefühle des Vaters eigentlich bestimmt sind, und die Tochter ist entlastet. Sie kann damit ganz in die Rolle der Tochter zurück und von hier aus neuen Kontakt mit der Mutter finden.
Am Schluß der Aufstellung tritt der Teilnehmer, der aufgestellt hat, an den Platz seines Stellvertreters. Bis zu diesem Moment hat er die ganze Zeit - das können fünfzehn Minuten sein oder auch eine ganze Stunde - die Geschichte seiner Familie von außen aus der Distanz angesehen. Manches ist ihm dadurch klar geworden. Nun nimmt er das neue Bild und die neue Ordnung mit allen seinen Sinnen in sich auf.

Eine sinnvolle Vorarbeit ist es, in der eigenen Familie zu forschen und sich bei Eltern, Onkeln und Tanten nach wichtigen Ereignissen zu erkundigen. Hier noch einmal die wichtigsten Fragen, um einflußreiche Fakten der Vergangenheit zu klären: Gab es in der Familie frühzeitigen Tod? Unter den Geschwistern? In der Linie von Mutter oder Vater? Gab es Unrecht und Schuld? Gab es Schicksalsschläge? War die Mutter oder der Vater vorher in fester Bindung?

Das Geflecht, mit dem eine Familie verbunden ist, wird sichtbar in einer Familienaufstellung. Was aus Liebe geschieht und durch sie aufrechterhalten wird, kann auch nur in Liebe wieder aufgelöst werden. Diese Atmosphäre ist die notwendige Grundlage, um alte Knoten und unglückselige Verstrickungen aufzulösen. Eine reifere Form von Liebe und Verbundenheit wird gefunden, und eine neue Ordnung wird möglich, an der jeder einen guten Platz hat. Uralte Spannungen, die sich durch Generationen weitergepflanzt haben, können sich so auflösen und Raum geben für ein zukünftig eigenständigeres Leben.

 


Familienaufstellungen

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Ohne Wurzeln keine Flügel. Die systemische Therapie von Bert Hellinger: Überblick über den Buchinhalt

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Aufstellungen bei Straftaten und im Strafvollzug - Ein Auszug aus "Ohne Wurzeln keine Flügel"

(Er-)Lösung duch Familien-Stellen?

 

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