Montag, 29. April 2024

Auszug: „Schritt 1: Ich stehe zu meinen Verletzungen“

Schritt 1: Ich stehe zu meinen Verletzungen 
Im 16. und 17. Jahrhundert suchten die Alchemisten nach dem „Stein des Weisen“, nach dem Wundermittel, das Unedles in Gold oder Silber wandeln sollte. Wäre es nicht schön, wenn es ein Wundermittel gäbe, das einfach alle unsere negativen Gefühle in Liebe verwandeln würde?
Wir geben uns etwas Mühe, sind nett und gut – und dann lieben wir. Viele Menschen streben danach.
Doch der Weg zur Liebe führt durch das Negative mitten hindurch. Deswegen ist der erste Schritt auf dem Weg zur Versöhnung: die eigenen Wunden anerkennen. Natürlich können wir uns am Negativen vorbeimogeln, um uns liebevoll zu fühlen. Aber eine solche Liebe hat wenig Substanz, es ist mehr ein „honey over shit“, wie es die Amerikaner drastisch ausdrücken. 
Da keine Eltern vollkommen sind – also auch die unseren nicht –, haben sie uns verwundet. Es gibt die offensichtlichen Fälle. Ein Ehepaar bekriegt sich, lässt sich schließlich scheiden und beide ziehen die Kinder in ihren Kampf hinein. Oder Eltern waren kaum oder gar nicht da für das Kind, weil das Geschäft, der Beruf oder die eigenen Interessen vorgingen.  Da geben Eltern ein Kind zur Adoption frei. Oder ein Vater lässt die Mutter mit dem Kind in Stich. 
Die Gründe können auch tragisch sein: Ein Kind stirbt und die Eltern kommen über ihre Trauer nicht hinweg, so dass sie das überlebende Kind kaum mehr wahrnehmen. Oder ein Kind ist behindert – die ganze Aufmerksamkeit der Eltern geht zu diesem Kind und alle anderen müssen zurückstehen. Ähnlich sind Erfahrungen, die erste Kinder machen, wenn kurz danach ein Geschwister kommt. Das Kind ist entthront – ohne zu begreifen warum. Aus dem Himmel der Aufmerksamkeit ist es verstoßen in die Nebenrolle.
Neben solchen eindeutigen Verletzungen treten Ereignisse im Alltag, die heftige Wunden schlagen. Fast jedes Kind erlebt irgendwann in seiner frühen Kindheit eine oder mehrere Situationen, in der es beschließt, sein Herz in Zukunft zu verschließen, um nicht noch mehr verletzt zu werden. Es gibt Schlüsselerlebnisse, in denen ein Kind geschlagen, beschimpft, verraten oder beschämt wurde. Von außen mag das Ereignis nicht besonders schlimm gewirkt haben, aber von innen her wurde es wie ein Dolchstoß erlebt. Indem wir unsere Persönlichkeit und Charakter entwickeln, bewältigen wir diese Erfahrungen. 
Aber ist denn nicht die Kindheit die glücklichste Zeit unseres Lebens? Papst Benedikt erzählt auf dem Weltfamilientreffen 2012 einem kleinen Mädchen: „Ich stelle mir vor, dass es im Paradies so sein wird, wie es in meiner Jugend war, meiner Kindheit. In dieser Umgebung des Vertrauens, der Freude und der Liebe waren wir glücklich.“ 
Auch wenn Benedikt sich so erinnert – dies ist nur die halbe Wahrheit. Kinder sind offen. Deswegen erleben sie die glücklichen Momente schrankenlos. Aber genauso schrankenlos die unglücklichen! Diese werden dann später vergessen und verdrängt. Die paradiesische Kinderzeit ist deshalb nur ein Mythos. Kindheit war Himmel gewesen - und Hölle.
Die alten Wunden tragen wir noch mit uns herum. Vielleicht sind sie vernarbt. Aber wenn die Narbe berührt wird, kommt der dort vergrabene Schmerz wieder hoch.
Wenn das allen ähnlich geht - soll oder kann ich da den Eltern nicht einfach verzeihen? Heutzutage taucht das bisweilen als moralische Forderung auf. Als liebevoller, reifer Mensch solltest du deinen Eltern großmütig vergeben!
Wenn das nur so einfach wäre!! Eltern zu vergeben, scheint etwas extrem Schwieriges zu sein.
Ich habe Menschen erlebt, die auf der Suche nach der universellen, kosmischen Liebe in sich waren. Sie strebten nach der Liebe zum Leben auf der Erde, zu den Pflanzen, zu den Tieren und zu allen Menschen. Doch die Eltern wurden dabei ausgeklammert. Es fällt wohl leichter, die ganze Menschheit auf einmal zu lieben als die eigenen Eltern …
Vielleicht verstehen Sie auch Ihre Eltern. Sie sehen ein, dass Sie damals nicht anders handeln konnten. Damit glauben Sie, mit der Vergangenheit in Frieden zu sein. 
Ich habe Bedenken: Verstehen Sie möglicherweise Ihre Eltern zu gut? Oder noch konkreter: Verstehen Sie sie zu schnell? 
Es gibt ein Verstehen, das ich das „entschuldigende Verstehen“ nenne. Und das ist nicht heilsam für Sie!
Nehmen wir ein dreijähriges Kind in der Trotzphase, dessen Mutter sich im Supermarkt gerade durch das Kind provoziert fühlt. Mit einer Riesenwut packt die Mutter das Kind an der Schulter, quetscht den Arm und zischt es mit todbösem Blick an: „Jetzt sei bloß endlich ruhig, sonst passiert noch etwas!“ Das Kind schreit empört, weil der heftige Griff so weh tut. Der Druck verstärkt sich, der Blick der Mutter wird noch wütender. Plötzlich erschrickt das Kind und fängt an zu weinen. 
Das war ein Schock für das Kind, es hat wirklich Angst bekommen. Und so sehr sich Eltern heute auch bemühen, solche subtile, versteckte Gewalttätigkeit zu vermeiden – Kinder haben die Fähigkeit, diese Eigenschaft aus ihren Eltern hervorzulocken.
Nach dem Verlassen des Supermarkt erklärt die inzwischen ruhigere Mutter dem immer noch weinenden Kind: „Jetzt wein doch nicht mehr. Es ist mir nur gerade passiert, weil ich so gestresst bin und weil du so widerborstig warst. Mama meint es gut mit dir, versteh das doch.“ Sie möchte wieder Frieden schließen. 
Das arme Kind ist nun doppelt gefordert. Zuerst einmal muss es den Schmerz und die Angst beherrschen und sich beruhigen. Dann soll es jetzt auch die Mutter noch verstehen. Nehmen wir an, das Kind ringt sich zu dieser Art von Verständnis durch. „Ja, Mama, ich versteh dich, eigentlich meinst du es gut.“ Ändert das etwas am ursprünglich Schreck und Schmerz? Macht es irgendetwas ungeschehen? Hilft es dem Kind in irgendeiner Weise? 
Nein! Aber es hat die Wirkung, dass die Mutter sich jetzt wieder gut fühlen darf. Das Verständnis ist wie die Absolution, die die Mutter vom Schuldgefühl entlastet. 
Das Verständnis für die Mutter wird so zur erstickenden Kuscheldecke, die den ursprünglichen ersten Impuls lähmt, ja verbietet. Kurz nach der Situation im Supermarkt erinnert sich das Kind daran und der Ärger und die Angst steigen wieder auf. Aber dann kommt der Stopp! „Ich muss die Mama doch verstehen, sie meint es ja gut mit.“ Diese Gedanken schwächen und richten eine Nebelwand auf. Ärger und Enttäuschung verschwinden im Keller. Sie werden zu „Kellerkindern“, wie Schwartz in seiner Beschreibung der Persönlichkeitsanteile diese unterdrückten Seiten nennt.
Da gibt es also einmal den Anteil des ärgerlichen und erschrockenen Kindes. Darüber taucht dann der Teil des Kindes auf, das die Mutter versteht. Mit dem Verständnis wird die ursprüngliche Reaktion verdrängt. Ja, es mag sich nun sogar schuldig fühlen, weil doch noch Ärger vorhanden ist. „Ich bin ein böses Kind, wenn ich auf die Mama, die es doch so gut mit meint, ärgerlich bin!“
Wenn Sie Ihre Eltern „entschuldigend verstehen“, dann laufen diese Dynamiken ab. Das ist gut für Ihre Eltern, weil es sie entlastet. Aber damit unterdrücken Sie den Teil in sich, der ein ursprüngliches Recht auf Empörung hat. Diese Empörung ist eine große Kraftquelle, weil sie elementar mit frühen spontanen Gefühlen, mit der Wut und der Kraft in der Wut, verbindet. 
Finden Sie deshalb einmal den Mut, Ihre Eltern   n i c h t  zu verstehen! Fassen Sie sich stattdessen ein Herz und verstehen Sie mehr von dem verletzten Kind, das Sie einmal waren. Stehen Sie zu Ihren schlimmen Erfahrungen als Kind! Erlauben Sie sich Vorwürfe an die Eltern! 
Stellen Sie sich vor, dass Sie als Kind ein absolutes Recht auf die beste Erziehung und Entfaltung, ein Recht auf die besten Eltern der Welt hatten! Spüren Sie dieses elementare Recht ganz tief drin in sich vergraben. 
Wenn Sie einmal total ungerecht wären - welche Anklagen fallen Ihnen ein? Wagen Sie schonungslos Vorwürfe zu äußern über alles, was schief gelaufen ist! 
Ihre Sätze können beginnen mit  „Es war nicht richtig von dir, dass du damals …“  „Es hat mich sehr verletzt, dass du damals …“
Oder auch „Ich werfe dir vor, dass du damals …“ Vielleicht sogar „Das war grausam, dass du damals …“ 
Riskieren Sie es, die Dinge beim Namen zu nennen. Vielleicht ist es schwierig, aber geben Sie nicht auf. Machen Sie einen ersten und zweiten und dritten Versuch. 
Wenn Sie es einmal mit einem Vorwurf ausprobiert haben, dann spüren Sie nach, welche nächste innere Reaktion bei Ihnen kommt. Erschrecken Sie? Verletzen Sie damit ein Tabu? Fühlen Sie sich schuldig? All das sind die alten Barrieren, die Sie zwischen sich und Ihren ursprünglichen Gefühlen und Ihrer ursprünglichen Lebendigkeit errichtet haben.
Ich empfehle Ihnen, einen Brief an Vater oder Mutter zu schreiben. Der Titel des Briefes lautet: „Was ich Dir noch nie gesagt habe.“ Sie nehmen sich eine ruhige Stunde und schreiben einfach auf, was Sie noch von der Vergangenheit her belastet. „Lieber Papa, es steht noch zwischen uns, dass du damals …“ Vielleicht kommt Ihnen auch etwas in den Sinn, wo Sie selbst die Eltern ungerecht verletzt haben. Dann schreiben Sie auch das auf und dass es Ihnen jetzt leid tut (wenn das wahr ist!).
Lassen Sie sich Zeit für den Brief. Er darf ruhig über mehrere Wochen geschrieben werden.
Es ist allerdings kein Brief, den Sie hinterher in den Briefkasten werfen und abschicken! Dieser Brief dient dazu, selbst mehr Klarheit zu gewinnen und Kräfte zu befreien, die Sie noch in der Vergangenheit festhalten. 
Finden Sie einen guten Platz für den Brief und bewahren Sie ihn dort auf. Erinnern Sie sich ab und zu an den Brief. Irgendwann spüren Sie, dass Sie den Brief mit seinen Vorwürfen jetzt loslassen können. Finden Sie auch dafür einen guten Weg! Begraben Sie ihn, verbrennen Sie ihn, lassen Sie ihn auf einem Fluss in die Ferne treiben und irgendwo in den Tiefen untergehen.


Überblick Inhalt
Einleitung
Warum Eltern so wichtig sind
Wann ist jemand in Frieden mit seinen Eltern?
Mein persönlicher Hintergrund
 
Teil 1 Die Liebe in der Tiefe
Spannungen zwischen Eltern und Kindern sind Teil der menschlichen Entwicklung
Lieben wirklich   a l l e  Eltern ihre Kinder?
Alle Kinder lieben ihre Eltern
Müssen Eltern sich ändern, damit ein Kind in Frieden kommen kann?
Wie den eigenen Kindern gute Eltern sein
 
Teil 2 Die 7 Schritte, um in Frieden zu kommen
Schritt 1 Ich stehe zu meinen Verletzungen
Schritt 2: Ich entdecke mehr von meiner Ähnlichkeit mit Vater und Mutter.
Schritt 3: Ich schaue mit dem Blick des Erwachsenen auf Mutter und Vater.
Schritt 4: Ich erkenne, dass mangelnde Liebe nichts mit mir persönlich zu tun hat.
Schritt 5: Ich achte meinen Mutter und meinen Vater.
Schritt 6: Ich bin dankbar für das, was ich von Vater und Mutter erhalten habe.
Schritt 7: Ich danke Mutter und Vater für das Leben.
Praktische Übungen: Die 7 Schritte
 
Teil 3 Hindernisse auf dem Weg zur Liebe
Sich aus den Spannungen zwischen Vater und Mutter zurückziehen
Verstrickungen mit Vorfahren in der Familie
Erleiden extremer Verletzungen durch die Eltern:       Wenn Eltern ein natürliches Band zerstören
Praktische Übungen: Hindernisse und Schlussbild
 
Teil 4 Die Liebe des erwachsenen Kindes
Wenn die Eltern alt werden
Wie gehe ich mit den neuen Einsichten um?


Rezension auf amazon vom 21. August 2020
Es gibt ja viele Ratgeber und viele - auch gute - habe ich gelesen. Aus fachlichem Interesse und auch, weil ich wissen wollte, was ich Klienten gerne weitergeben würde, wenn diese nach Literatur fragen. Schließlich natürlich auch für mich :-) Erfahrungen liegen ja hinter jeder Ecke bereit.
Gerade in diesen covid-irritierten Zeiten unseren Umgang mit Angst zu beleuchten, finde ich besonders wichtig und Ulsamer bindet das jederzeit hilfreiche Buch an diese Zeit an. Angst hat immer etwas mit Phänomenen zu tun, die uns Kontrolle entziehen, Unsicherheit erzeugen oder Orientierung erschweren.
Es ist ein konzentriertes und leicht lesbares Buch geworden mit einer zugänglichen Sprache. Die Übungen kommen aus verschiedenen Bereichen der Therapie und Beratung und integrieren Denken und Körperwahrnehmung. Ulsamer betont, dass er dieses Extrakt an Übungen selbst anwendet bzw. angewendet hat. Sie sind aus der Erfahrung geschrieben, und das merkt man auch. Ich finde dies wichtig für einen Ratgeber - es ist allerdings nicht immer selbstverständlich.
Alle Übungen sind eingebettet in einen kurzen Text, der die Hintergründe klarmacht, warum diese oder jene Angst bisher "erfolgreich" war und welche Strategie wir unbewusst damit verfolgen. Etwa wie wir selbst durch unsere automatischen Gedankenketten unsere Angst vor einer Situation noch schüren. Diese Angst mag einen realistischen Grund haben, beispielsweise die Arbeit zu verlieren in einer wirtschaftlich unsicheren Zeit für die Branche, der wir arbeiten. In der Regel bauen wir dann Sorgenketten auf nach dem Muster: Wenn A - dann könnte B ... Wenn B - dann könnte C ... Der nächste Schritt wäre, dass aus "ich könnte meinen Job verlieren" "ich werde meinen Job verlieren" wird und wir sind in Panik... Wie also vermeiden wir dieses destruktive Gedankenspiel, das uns handlungsunfähiger macht, als wir es brauchen können? Denn, was wir wollen ist ja, die guten Gründe von Angst ernst nehmen und gegebenenfalls klug vorsorgen, statt uns in Worst Case-Szenarien hineinzuschrauben. Ulsamer gibt hierauf verständlich und handlungsorientiert Antwort.
Und er geht auch das Thema Angst und Endlichkeit an. Ob wir an unseren Tod denken oder befürchten, unsere Lieben könnten sterben, oder ob Endlichkeit sich darauf bezieht, dass ein Lebensstil oder ein Lebensabschnitt vorübergeht: Ängste diesbezüglich sind unvermeidlich. Statt nun wegzuschauen, gibt es die Einladung, mit Anleitung hinzuschauen und interessanterweise durch diese Annäherung Abstand zu schaffen.
Die Übungen sind klar beschrieben, kurz genug, für jeden und jede machbar und sie helfen sofort :-) wenn man sie macht! Das allerdings ist dann wirklich zu tun - wir brauchen dieses Tun und Nachfühlen und Wahrnehmen, ja, und auch die Zeit, die dies in Anspruch nimmt. Es wird eine gute Investition sein. Das Buch und die Zeit für sich. 

 

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